Bibliothek im Transit: Das Offenbach Archival Depot 1946-1949
In dem 1946 von der amerikanischen Militärregierung eingerichteten Archival Depot in Offenbach am Main sammelten sich in der kurzen Zeit seines Bestehens etwa drei Millionen Bücher jüdischer Provenienz aus ganz Europa. Sein Charakter entsprach dabei weit mehr dem einer Lagerstätte als dem einer Bibliothek im eigentlichen Sinne. Die Bücher zeugten nicht nur von den Ausmaßen der von den Nazis verfügten Zerstörung jüdischer Kultur, sondern waren oft die einzig auffindbaren Relikte ihrer vormaligen Besitzer und Einrichtungen. In einer beispiellosen Initiative gelang es den in Offenbach tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Emissären jüdischer Organisationen und Abgesandten der beraubten Länder Bestände zu identifizieren, zuzuordnen und ihre Rückgabe vorzubereiten. Bücher in über 20 Sprachen und aus mehr als 15 verschiedenen Ländern wurden im Offenbacher Depot aufbewahrt, schließlich restituiert oder in die neuen Zentren jüdischen Lebens außerhalb Europas verteilt.
Während auf einem ehemaligen IG-Farben-Industriegelände in Offenbach das Archival Depot eingerichtet wurde, wo nach und nach auffindbare Bestände geraubter Bücher, Manuskripte, Inkunabeln und Objekte jüdischer Herkunft zusammenflossen und in Blöcken gestapelt oder in Kisten verpackt ihrer Zukunft harrten, erschien in der amerikanischen Zeitschrift Jewish Social Studies eine knapp 100 Seiten umfassende Liste einzigartiger Bedeutung. Sie verzeichnete alle wesentlichen jüdischen Bibliotheken, Sammlungen und Kultureinrichtungen Kontinentaleuropas, wie sie vor der Zerstörung durch die Nazis bestanden hatten. Führt man sich beide Aspekte unmittelbar vor Augen, zeigt sich die Massivität der Zerstörung jüdischer Kultur- und Lebenswelt wie unter einem Brennglas. Die Vielfalt und Größe der europäisch-jüdischen Wissens- und Buchkultur wie sie in der Tentative List of Jewish Cultural Treasures in Axis Occupied Countries in kleinteiligen Bestandseinträgen für zwanzig verschiedene Länder dokumentiert ist, steht der Sammlung in Offenbach gegenüber. Sie beherbergte die materiellen Überreste, die von dieser Kulturlandschaft verblieben waren.
Ein amerikanischer Offizier sichtet im Offenbacher Depot Dokumente in hebräischer Sprache (Foto: © Yad Vashem)
Monuments Men
Bereits vor Ende der Kriegshandlungen war eine Spezialeinheit der amerikanischen Armee, das Monuments, Fine Arts and Archives Unit (MFA&A), damit betraut worden, systematisch der Suche und Bergung der aus ganz Europa geraubten Kulturschätze nachzugehen. Die in über 1.700 Verstecken gefundenen Kunstwerke, Ritualobjekte, Bibliotheks- und Archivbestände wurden später in zu diesem Zweck eingerichtete Sammelstellen, zu so genannten Collecting Points gebracht. Von hier aus stieß die amerikanische Militärregierung ab Mitte 1945 eine der größten Anstrengungen kultureller Restitution der Geschichte an.
Die wichtigste amerikanische Sammelstelle für die geraubten jüdischen Kulturgüter sollte das Offenbach Archival Depot werden. Hier wurden im Laufe seines Bestehens Millionen Bücher, Zeitschriften und Manuskripte sowie mehrere Tausend Thorarollen, Textil- und Silberwaren aufbewahrt, die die Soldaten gefunden hatten. Im Herbst 1945 stieß die MFA&A auf eines der größten Verstecke im hessischen Hungen. Dorthin waren wesentliche Teile einer vom notorischen Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg aus ganz Europa zusammengeraubten Bibliothek ausgelagert worden. Dieser Fund machte eine eigens für Schriftstücke und Bücher geeignete Sammelstelle notwendig. Die amerikanischen Verantwortlichen eröffneten im März 1946 das Offenbacher Depot.
10.000 Bücher wurden pro Tag sortiert (Foto: © Yad Vashem)
Eine temporäre Bibliothek
Die Nachricht von der Sammlung in Offenbach löste unter den jüdischen Zeitgenossen große Hoffnungen und Erwartungen aus – in vielen Berichten ist von der „größten jüdischen Bibliothek“ Europas die Rede. Das Wissen um die kostbaren Funde ließ sie herkulische Bemühungen anstoßen, um die Bestände zu retten und in jüdischen Besitz zurückzuführen. Die in New York erstellte Liste sollte dabei von großem Nutzen sein – ihre Autorinnen und Autoren wurden federführende Akteure in den Verhandlungen um jüdische Rückerstattungsansprüche in Bezug auf Kulturgüter. Ihrem Ansinnen stand aber zunächst das Pariser Reparationsabkommen der Alliierten von 1946 gegenüber, das völkerrechtlichen Standards folgend die Rückgabe von identifizierbarem Raubgut an die Herkunftsstaaten vorsah.
Flohmarktfund (Foto: privat)
Restitution
Für westeuropäische Sammlungen in Offenbach – wie etwa die berühmte Rosenthaliana Bibliothek aus Amsterdam oder die der École Rabbinique aus Paris –genügte es, dem ratifizierten Vorgehen zu entsprechen. In den betreffenden Ländern wurden sichtbare Anstrengungen unternommen, über Hindernisse hinweg jüdisches Leben wieder aufzubauen. Rückführungen von Büchern und Kultgegenständen an ihre vormaligen Einrichtungen waren durchaus möglich. Gleiches galt allerdings nicht für die zahlreichen deutschen oder die häufig schwer identifizierbaren Bücher und Objekte aus Mittel- und Osteuropa. Weder wollten die beteiligten jüdischen Akteure den stark dezimierten jüdischen Gemeinden in Deutschland mehr als das nötigste überlassen, geschweige denn deutschen Bibliotheken Material übergeben, drohten sich so doch die Täter weiter am Besitz der Opfer zu bereichern.
Dieses Buch aus dem Offenbach Archival Depot befindet sich heute in der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (Foto: © ICZ)
Genauso wenig konnten sie davon ausgehen, dass nach Polen, die Sowjetunion oder die Tschechoslowakei rückerstattete Bestände je wieder in jüdischen Besitz gelangten, waren doch die meisten Überlebenden geflohen und nahezu die gesamte jüdische Infrastruktur zerstört. Die Asymmetrie zwischen der Menge von Büchern, die den vormaligen jüdischen Zentren entstammten und in Offenbach bewahrt wurden und der nur kleinen Gruppe der überlebenden jüdischen Bevölkerung vor Ort war frappierend; der drohende Kalte Krieg verstärkte die Skepsis gegenüber einer Zusammenarbeit mit osteuropäischen politischen Repräsentanten. Dennoch kam es zu Übergaben aus dem Offenbacher Bestand, was namhafte Rabbiner und Gelehrte wie Leo Baeck, Gershom Scholem, Salo W. Baron und Cecil Roth auf den Plan rief. Sie setzten sich engagiert dafür ein, dass für erbenlose und nicht identifizierbare Sammlungen jüdischer Herkunft in Offenbach, insbesondere solche aus Osteuropa, eine andere Rückerstattungslogik zum Tragen käme.
Gershom Scholem gehörte zu den Gelehrten, die sich für den Offenbacher Bücherschatz einsetzten (Foto gemeinfrei, commons.wikimedia.org)
Ihrer Vorstellung nach sollten die Bücher dahin überführt werden, wo auch die Menschen Zuflucht gefunden hatten, die sie nutzen wollten. Bis zum Erreichen dieses Ziels waren noch einige Verhandlungen nötig – erst im Februar 1949 gelang es dem Kreis um Salo Baron in New York schließlich, eine jüdische Treuhandorganisation einzusetzen, die sich der Sammlungen und Objekte annehmen durfte und diese tatsächlich nach Israel, die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Südamerika, Südafrika und Australien ausführte.
Bücher und Gedächtnis
Ähnlich wie die jüdischen Überlebenden aus ganz Europa unter amerikanischer Besatzung in Deutschland für kurze Zeit Schutz fanden und ein Transitzentrum jüdischen Lebens ausbildeten, repräsentierte auch die temporäre Bibliothek in Offenbach eine Art Zentrum jüdischer Wissenskultur auf europäischem Boden, bevor die hier bewahrten Sammlungen in weltweit verteilt wurden. Doch sie war noch weit mehr. Nahezu alle Personen, die mit dem Ort konfrontiert wurden, schilderten die unmittelbare Präsenz der Vernichtungsgeschichte. Mehr Gedenk- als Wissensraum, fast einem Friedhof ähnlich – so empfanden es viele Besucherinnen und Besucher. Zahlreiche Zeugnisse schildern die Wirkmächtigkeit dieser Realität in Offenbach, so auch das des jüdischen MFAA-Offiziers Leslie Poste:
„These books and objects were what was left of the hundreds of Jewish institutions of learning, of Jewish communities, wiped out by the Holocaust of Hitlerism. Few can fathom the depth of the Jewish tragedy of which these remnants stood as sad memorial.”
Gleichzeitig wurden Zukunftshoffnungen mit der Rettung der Bücher verbunden, für die das Depot sinnbildlich einstand. Sie sollten neben aller Gedächtnisarbeit auch Kontinuität und Perspektiven neuer Entwicklungen jüdischen Kulturlebens nach dem Bruch stiften. So finden sich heute Bücher in aller Welt, die den Stempel des Offenbacher Depots tragen und eine Geschichte von Zerstörung, Rettung und Überleben erzählen.
Dr. Elisabeth Gallas ist leitende Mitarbeiterin des Leibniz-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow.
Zum Weiterlesen:
Elisabeth Gallas, „Das Leichenhaus der Bücher“ Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2016
© Titelbild: Yad Vashem
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