Der Jewish Archival Survey – jüdische Dokumente und Kulturschätze in der Ukraine
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, der am 24. Februar 2022 begonnen hat, tötet Menschen, vernichtet lebensnotwendige Infrastruktur – und er zerstört ihr kulturelles Erbe. Zu den kostbarsten Erbstücken gehört die ukrainisch-jüdische Geschichte. Das Land war eines der wichtigsten Zentren des osteuropäischen Judentums. Am Vorabend des Holocaust lebten 2,5 Millionen Jüdinnen und Juden auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.
Auch wenn durch Schoa und Zweiten Weltkrieg vieles unwiederbringlich verloren ging, bewahren Bibliotheken und Archive in der Ukraine heute umfangreiche und einzigartige Sammlungen von Büchern und Dokumenten.
Schon jetzt sind zahlreiche Bibliotheken durch Luftangriffe beschädigt oder zerstört. Die Sicherung und Evakuierung der Bestände läuft auf Hochtouren, Bibliotheken und Bibliothekar*innen aus anderen Staaten – allen voran die polnischen Kolleg*innen – unterstützen mit Geld, Material und Manpower. In Deutschland engagiert sich vor allem das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine für die bedrohten Bibliotheken. Im Angesicht des Kriegs gewinnt das Projekt Jewish Archival Survey (JAS), das seit 20 Jahren jüdische Dokumentenbestände in der Ukraine erschließt, eine noch größere Bedeutung. David Fishman, Leiter des Projekts, stellt es vor.
Eines der bedeutendsten Zentren jüdischen Lebens
Beinahe 400 Jahre lang war die Ukraine eines der weltweit wichtigsten Zentren jüdischen Lebens. Wolhynien und Podolien waren die Wiege des Chassidismus, Odessa des russischen Zionismus und der modernen hebräischen Literatur. Nach der Revolution von 1917 blühte die jiddische Kultur in Charkiw und Kiew auf.
Damals war die Ukraine kein unabhängiges Land. Das Gebiet der heutigen Ukraine gehörte zum größten Teil zur Sowjetunion; kleinere Teile gehörten zu Polen, Rumänien und der damaligen Tschechoslowakei. Innerhalb dieser Grenzen gab es mehrere jüdische Bibliotheken, Archive und Museen. Das Institut für Jüdische Proletarische Kultur in Kiew, das der Akademie der Wissenschaften der ukrainischen SSR angeschlossen war, besaß eine umfangreiche Bibliothek und ein großes Archiv. Das Mendele Mokher Seforim Museum in Odessa – benannt nach dem Urvater jiddischer Literatur – und das Jüdische Museum in Lemberg (heute L’viv) hatten wichtige Sammlungen jüdischer Kunst und Kulturgüter. Auch in Charkiw und Czernowitz (heute Tscherniwzi , vor dem Zweiten Weltkrieg Cernauti, Rumänien) befanden sich wichtige jüdische Bibliotheken.
Das jüdische kulturelle Erbe der Ukraine bewahren
Der Jewish Archival Survey – ein Projekt des Jewish Theological Seminary of America – hat es sich zum Ziel gesetzt, die Überreste dieser Sammlungen zu ermitteln und zu beschreiben. Darüber hinaus dokumentiert der JAS die jüdische Geschichte und Kultur der heutigen Ukraine.
Das Projekt hat ein doppeltes Ziel: zum einen, das historische Erbe der im Holocaust dezimierten jüdischen Gemeinden zu bewahren, und zum anderen, die jüdischen Handschriften, Dokumente und Artefakte, die von den sowjetischen Behörden in geschlossenen “Sondersammlungen” weggesperrt wurden, nunmehr allen Forscherinnen und Forschern zugänglich zu machen.
In den 20 Jahren ihres aktiven Bestehens hat der JAS drei Handbücher zum dokumentierten Erbe der jüdischen Gemeinden von Kiew (2006), Wolhynien (hauptsächlich der Städte Schytomyr und Riwne, 2009), und der südlichen Ukraine (Odessa, Cherson, Mykolajiw, 2014) herausgebracht. Ein vierter Band zur ältesten jüdischen Gemeinde der Ukraine, Lemberg – ihre Geschichte geht bis ins 14. Jahrhundert zurück –, wurde kurz vor dem Beginn der russischen Aggression fertiggestellt. Er wird gerade redigiert und voraussichtlich im Frühjahr 2023 in Polen veröffentlicht.
Die Wernadskyj-Nationalbibliothek in Kiew (© By Artemka - Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44662981)
Die wertvollsten Teile dieser Bestände stehen in der Wernadskyj-Nationalbibliothek in Kiew, unter ihnen eine Sammlung Pinkasim (Protokollbücher jüdischer Gemeinden und Vereine), die bis ins 18. Jahrhundert zurückgeht, sowie Berichte des Ethnografen S. An-Ski, der auf einer Expedition im Jahr 1913 Volkslieder, Erzählungen, Fotos und andere Bilder sammelte und Traditionen aufschrieb. Schließlich besitzt die Wernadskyj-Bibliothek Teile des Archivs des Instituts für Jüdische Proletarische Kultur. Diese und andere Schätze werden zurzeit – laut Berichten der Kollegen in Kiew – in besonderen Lagern aufbewahrt, um sie vor russischen Bombardements zu sichern.
Für diejenigen, die sich besonders für jüdisches Leben am Vorabend des Holocaust interessieren, sind die Archive Lembergs von unschätzbarem Wert. Sie enhalten die Unterlagen von mehr als 30 örtlichen jüdischen Organisationen – von Zionisten über Sozialfürsorge-, Sport- und Jugendgruppen bis zu religiösen Vereinen und Bildungsinstitutionen. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Lemberg (L’viv, Lwow) die drittgrößte jüdische Gemeinde Polens nach Warschau und Lodz (Łódź). Um die Objekte vor Schäden durch den aktuellen Krieg zu schützen, haben die Archivstellen feuerfeste Aufbewahrungsmaterialien aus Polen erhalten.
Der JAS deckt ein weites Spektrum ab, einschließlich von Dokumenten über jüdisches Leben, die aus nicht-jüdischen Quellen – von Einzelpersonen, Organisationen oder staatlichen Stellen – stammen. Unter diesen sind z. B. Urkunden königlicher Behörden aus den 14.–16. Jahrhundert, Hofberichte über jüdisch-christliche Beziehungen, Berichte der russischen, österreichischen und polnischen Bildungsministerien über jüdische Schulen und sowjetische Unterlagen über die Verfolgung von Zionisten und Juden, die nach Israel auszuwandern wollten.
Das Projekt hat sich als Enddatum die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 gesetzt. Damit enthält es auch viele Informationen über Juden, jüdisches Leben und Antisemitismus in der sowjetischen Ukraine nach dem Zweiten Weltkrieg. Immerhin lebten damals noch mehr als eine Million Juden in diesem Gebiet.
Die Befunde des Jewish Archival Survey werden bald beim Yerusha Portal, der zentralen Datenbank für jüdische Archive in Europa, online (in Englisch) verfügbar sein: www.yerusha.eu.
David E. Fishman ist Professor für Geschichte und Direktor des Jewish Archival Survey am Jewish Theological Seminary of America, New York.
Weitere Informationen zur Lage der Bibliotheken in der Ukraine:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/bibliotheken-ukraine-krieg-100.html Bibliotheken im Krieg: Ein Angriff auf die ukrainische Kultur – Olaf Hamann, Leiter der Osteuropa-Abteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur
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