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Christiane Hoffrath

Die Bibliothek der Schwestern Richter: Die Geschichte von Büchern ist die Geschichte von Menschen




1942 verkauften die Wiener Philologinnen Elise und Helene Richter einen Teil ihrer Privatbibliothek an die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln (USB). Nur wenige Monate später wurden die beiden Schwestern in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie bald darauf starben. In der Bibliothek erinnerte sich für fast 70 Jahre niemand daran, dass es sich bei dieser Erwerbung um NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut – kurz NS-Raubgut – handelte.



In den 1950er Jahren arbeitete die Bibliothek die kriegsbedingt liegengebliebenen Rückstände der Neuerwerbungen auf. Der Umstand, dass Elise Richter und der Kölner Bibliotheksdirektor Hermann Corsten – der vor allem am Erwerb der sprachwissenschaftlichen Werke interessiert gewesen war – 1941 einen Kaufvertrag in Höhe von 2.700 Reichsmark abgeschlossen hatten, fand dabei keinerlei Beachtung. Bittere Ironie: Die Bibliothekare inventarisierten die Bücher als Geschenk.



Eine unscheinbare Akte


Als Verantwortliche für die Historischen Sammlungen begann ich 2005, in unseren Beständen nach NS-Raubgut zu forschen. Die Kölner USB ist die Bibliothek mit dem größten historischen Buchbestand in Nordrhein-Westfalen. Der kriegsbedingte Verlust von Inventarbüchern erschwert bis heute die Suche nach NS-Raubgut. So dauerte es zwei Jahre, bis ich rund 550 Bände der Richterschen Privatbibliothek im Bestand ausfindig machte. Eine Schlüsselrolle spielte dabei eine schmale Akte, die über all die Jahre in der Bibliotheksdirektion(!) aufbewahrt worden war. Sie enthielt Briefe und – wie sich erst im Laufe der Recherchearbeiten herausstellte – Teile von Bücherlisten. Forschungen in verschiedenen Archiven trugen letztlich auch dazu bei, die Geschichte dieses NS-Raubgut-Falls nachvollziehen und dokumentieren zu können.



Rekonstruktion einer Bibliothek


Das bereits parallel zu den Recherchearbeiten entstandene Portal Virtuelle Bibliothek Elise und Helene Richter hatte von Beginn an zum Ziel, die Rekonstruktion zu dokumentieren. Neben dem Katalog der Richter-Bibliothek bietet das Portal einen Einblick in die Biografie der Schwestern, den Verkauf der Bücher und listet Fundorte weiterer Bände der einstigen Privatbibliothek im In- und Ausland auf.


Jahre später, im Jahr 2016, erfolgte der nächste Schritt: Die in der USB ermittelten Reste der einstigen großen Büchersammlung konnten an Erben der Richter-Schwestern in England restituiert werden. Vereinbart wurde damals, dass die Bücher entsprechend dem Wunsch Elise Richters weiterhin der Wissenschaft zur Verfügung stehen sollten. Mittlerweile sind die Bände der Richter-Bibliothek wieder vereint unter der Signatur „RICH“ aufgestellt. Sie stehen heute jedem Interessierten zur Einsicht im Lesesaal Historische Sammlungen zur Verfügung.



Elise und Helene Richter


Als Elise Richter 1907 die Lehrerlaubnis der Universität Wien verliehen wurde, war sie damit die erste Privatdozentin in Österreich. Auch in Deutschland gab es zuvor keine Professorin. Jahrzehntelang lehrte sie Romanistik und Sprachwissenschaft und war eine Pionierin der phonetischen Studien.



 

Elise (links) und Helene Richter (Fotos gemeinfrei)




Unmittelbar nach dem sogenannten Anschluss Österreichs 1938 wurde Elise Richter die Lehrerlaubnis entzogen und sie von der Hochschule verwiesen. Die Universität Wien, wo sie 31 Jahre gelehrt hatte, verweigerte ihr die Zahlung eines Ruhegeldes. Bestellte Bücher händigte ihr die Universitätsbibliothek nicht mehr aus.



Bücherverkauf unter Zwang


Bereits im November 1938 standen die Schwestern vor dem finanziellen Ruin. Um die Vermögensabgabe zahlen zu können, gaben sie „ihr Sterbegeld her“ und verkauften 100 der wertvollsten Bücher ihrer Bibliothek. „Es war der erste Leichenwagen, der sie fortführte“, so Elise Richter in ihrem ersten Brief nach Köln vom 24. August 1941.


Die „International Federation of University Women“, Dachverband des von Richter mitgegründeten „Verbands der Akademischen Frauen Österreichs“, bot den Schwestern an, sie bei einer Emigration nach England zu unterstützen. Abgesehen davon, dass es ihnen aufgrund fehlender finanzieller Mittel nicht mehr möglich war auszureisen, lehnten sie es ab, als verarmte Fremde und Almosenempfängerinnen im Ausland zu leben. Sie wollten versuchen, allen Auflagen, die der jüdischen Bevölkerung auferlegt worden waren, nachzukommen, um, wenn auch isoliert und drangsaliert, in ihrem geliebten Wien bleiben zu können.



 

Elise Richter engagierte sich auch kommunalpolitisch (© ÖNB)




Ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt war. Am 10. März 1942 mussten die Schwestern ihre Wohnung verlassen und in ein sogenanntes jüdisches Altersheim umziehen. Von dort aus schrieb Elise Richter weiterhin Briefe nach Köln. Im selben Monat ordnete Adolf Eichmann an, mit der Deportation von 20.000 Prager und 18.000 Wiener Juden zu beginnen. Im Oktober wurden Elise und Helene Richter gemeinsam mit den 1.321 letzten Juden aus Wien nach Theresienstadt deportiert. Als sie dort ankamen, befanden sich 58.000 Gefangene im Lager, der höchste Stand, den dieses KZ je zu verzeichnen hatte. Die Zustände waren unbeschreiblich. Sechs Wochen später starb Helene Richter am 8. November 1942. Todesursache laut Todesfallanzeige: Darmkatarrh. Nach dem Tod der Schwester hielt Elise dem Ungeziefer, der Unterernährung, den Krankheiten und vor allem der seelischen Qual noch weitere acht Monate stand. Sie starb am 21. Juni 1943. Todesursache: Darmkatarrh und Lungenentzündung.


Der letzte Brief in der Akte ist eine Rechnung über 500 Reichsmark für die Autografensammlung der Schwestern. Diese Summe stellte die USB der Österreichischen Nationalbibliothek in Rechnung, denn in ihrem Auftrag hatte Hermann Corsten die Theatersammlung der Schwestern erworben – allerdings ohne deren Wissen. Dieses letzte Dokument stammt vom 16. März 1943. Die Nationalbibliothek in Wien hat der USB den Betrag überwiesen. Elise und Helene Richter haben das Geld für ihre Bibliothek nie erhalten.


Die Geschichte von Büchern ist immer auch die Geschichte von Menschen, und so führten die „Bücherspuren“ in der USB zur Biografie der Schwestern. Die erhaltenen Bände aus ihrer einstmals so reichen und gelehrten Privatbibliothek legen Zeugnis ihres wissenschaftlichen Arbeitens ab und enthüllen das große soziale Netzwerk der Wienerinnen. Dank der Bücherspuren zählt die Geschichte der beiden Frauen und ihrer Bibliothek heute zu den bekanntesten Fällen der NS-Provenienzforschung in Deutschland und Österreich.



Dr. Christiane Hoffrath ist Leiterin des Dezernats „Historische Bestände und Sammlungen, Bestandserhaltung und Digitalisierung“ der USB Köln.




Literatur: Christiane Hoffrath: Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im „Dritten Reich“. 2. Auflage. Köln: Böhlau, 2010.


Christiane Hoffrath: Bibliotheksdirektor im Nationalsozialismus. Hermann Corsten und die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Köln: USB, 2012.




© Titelbild: gemeinfrei

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