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  • Andreas Lehnardt

Ein Archiv jüdischen Lebens: Die Jüdische Bibliothek Mainz




Die Jüdische Bibliothek Mainz ist gleich in mehrfacher Hinsicht eine Rarität und Kostbarkeit. Heute als Präsenzbibliothek in der Johannes Gutenberg-Universität nutzbar, spiegelt die Bibliothek in einmaliger Weise jüdisches Gemeindeleben über mehrere Jahrhunderte: Im Kern setzt sie sich aus den Beständen zweier Gemeindebibliotheken zusammen, der orthodoxen und der liberalen Gemeinde in Mainz. Insgesamt rund 5.500 Bände sind erhalten, darunter seltene Hebraica und Judaica, kostbare Drucke, Rabbinernachlässe, hebräische und deutsche Handschriften.



Die in den 1930er Jahren in einem Seitenflügel der Mainzer Hauptsynagoge in der Hindenburgstraße untergebrachte Bibliothek wurde zum großen Teil in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, während des Novemberpogroms, von der Gestapo beschlagnahmt. Weitere Bände konnten im August 1939 unter Anleitung von Rabbiner Dr. Sali Levi aus einem Kellerraum der zerstörten Synagoge geborgen werden. Die gesamten Bestände wurden in die Mainzer Stadtbibliothek gebracht, wo sie relativ unbeschadet den Krieg überstanden. Bald nach Kriegsende erlangte die wieder gegründete Gemeinde sie zurück. Seit 1955 befinden sich die Bände als Leihgabe der jüdischen Gemeinde an der Mainzer Universität.


Die Geschichte der Jüdischen Bibliothek in Mainz ist mittlerweile recht gut erforscht. Doch noch immer ist die Sammlung wenig bekannt und wird auch mehr als 80 Jahre nach ihrer Beschlagnahme nicht entsprechend als eine der wenigen erhaltenen jüdischen Gemeindebibliotheken beachtet. Mittlerweile sind zahlreiche wertvolle Bände digitalisiert und online zugänglich. Und auch die über 40 Handschriften sind online einsehbar.


Im Bestand befinden sich seltene Hebraica und Judaica aus unterschiedlichen Gebieten der jüdischen und nichtjüdischen Literaturen – hauptsächlich religiöse Gebrauchsliteratur wie Chumashim (Bibelausgaben), Siddurim und Mahzorim (Gebetbücher für Alltag und Festtage), aber auch Antisemitica und Titel über Israel und Palästina sowie den Zionismus. Die ältesten, zum Teil prachtvoll gebundenen Bände stammen aus dem 16. Jahrhundert. Einen besonders interessanten Teil des Bestandes bilden hebräische Drucke aus Frankfurt am Main. Dies ist auch deshalb hervorzuheben, da in Frankfurt selbst aufgrund von Kriegsschäden fast alle Hebraica vernichtet wurden.



Zentrum jüdischer Buchkunst: Drucke aus Frankfurt


Frankfurt am Main gehörte seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts zu den wichtigen Druckorten für hebräische Bücher in Deutschland. Es überrascht daher nicht, dass sich auch in der Mainzer Jüdischen Bibliothek zahlreiche frühe Belege für dieses Zentrum jüdischer Buchkunst finden. Einige seltene Exemplare Frankfurter Drucke sind wegen ihres guten Erhaltungszustandes und interessanter Vorbesitzervermerke von besonderem Interesse. Darüber hinaus sind auch Bände erhalten, die sich nur noch in wenigen anderen Kollektionen in Deutschland nachweisen lassen.


Erhalten ist etwa ein Exemplar der bekannten, Hovot Ya’ir genannten Halakha- und Responsen-Sammlung von Ya’ir Hayyim ben Moshe Shimshon Bacharach (1638-1702), dessen Grab sich auf dem Heiligen Sand in Worms befindet. Gedruckt wurde das Buch in Frankfurt am Main 1699. Vom gleichen Drucker, Johann Wust, dem Sohn von Balthasar C. Wust, stammt ein Druck des ‛Avodat Gershoni, Frankfurt am Main 1699. Seine Druckerei hatte er um 1690 in Frankfurt errichtet, doch stießen seine Produkte bald auf die Vorbehalte Strenggläubiger, da er auf seinen Titelblättern unbekleidete Barockengelchen abbildete.


Das Mainzer Exemplar des "Avodat Gershoni" („Dienst des Gershon“) gehörte zur „Lehmann-Bücherei“, stammte also aus dem Nachlass von Rabbiner Marcus Meir Lehmann (1831-1890), dem wichtigsten Vertreter der Orthodoxie in Mainz. Einem handschriftlichen Besitzervermerk auf den ergänzten Ecken des Titelblattes zufolge gehörte der Band den nicht näher bekannten Gemeindevorstehern Rav Yanke und Rav Yosman.


Ein anderer bemerkenswerter Titel aus Frankfurt stellt das von Hanokh ben Avraham (17. Jh.) verfasste Sefer Reshit Bikkurim („Buch vom Anfang der Erstlingsfrüchte“) dar. Es wurde 1708 bei Matthias Andrae aufgelegt und enthält Predigten und Exegesen einzelner biblischer Verse. Matthias Andrae war Nachfolger von Johann Wust in Frankfurt und arbeitete in enger Verbindung mit Aharon Shmu’el Kaidanover.



 

Hanokh ben Avraham, Sefer Reshit Bikkurim, Frankfurt 1708 (© Universitätsbibliothek Mainz)




Das Titelblatt des Mainzer Exemplars weist einen Stempel von Rabbiner Jacob Stern aus Niederstetten auf – eine bekannte Persönlichkeit –, der sich vom orthodoxen Rabbiner zum Vertreter der Reform und schließlich zu einem atheistischen Sozialisten entwickelte und u. a. von Clara Zetkin (1857–1933) beachtet wurde. Die noch deutlich erkennbare erste Restaurierung des Einbandes dieses Exemplars wird noch auf Stern selbst zurückgehen. Auf welchen Wegen Bücher nach seinem Abfall von der traditionellen jüdischen Lebensweise aus seinem Besitz in den Mainzer Bestand gelangt sind, bleibt zu klären.



 

Rabbiner Zvi Hirsch Plato, Quntres havla‛at ha-dam, Frankfurt 1890 (© Jüdische Gemeinde Mainz)




Auf die enge Verbindung der Mainzer Religionsgesellschaft mit der Kölner Orthodoxie verweist ein Band von „Dr. Plato. Isr. Lehrerseminar“. Rabbi Zvi Hirsch Plato (1822-1910) aus Köln legte mit dem 1890 bei J. Kaufmann in Frankfurt am Main erschienenen Quntres havla‛at ha-dam eine Verteidigung der Schächtung durch Verblutenlassen vor. Sie wurde in den Ende des 19. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen um das Schächten auch von Mainzer Gemeindevertretern beachtet.



 

Rabbiner Zvi Hirsch Plato, Quntres havla‛at ha-dam, Frankfurt 1890 (© Jüdische Gemeinde Mainz)




Zahlreiche weitere seltene Hebraica in der Mainzer Sammlung belegen die enge Verbindung mit der Main-Metropole und ihren hebräischen Druckereien.


Weitere interessante Beispiele finden sich auf den Online-Seiten und laden zur genaueren Erforschung ein:



Andreas Lehnardt lehrt Judaistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.




Bibliographie:


Lehnardt, Andreas, Die jüdische Bibliothek an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1938-2008. Eine Dokumentation, Beiträge zur Geschichte der Universität Mainz – Neue Folge 8, Stuttgart: Steiner 2009.


Lehnardt, Andreas, Die Bibliotheken in den jüdischen Gemeinden von Mainz, in: Hedwig Brüchert (Hrsg.), Die Mainzer Synagogen. Ein Überblick über die Mainzer Synagogenbauwerke mit ergänzenden Beiträgen über bedeutende Mainzer Rabbiner, das alte Judenviertel und die Bibliotheken der jüdischen Gemeinden, Mainz 2008.


Lehnardt, Andreas (Hrsg.), Aus den Bücherregalen. Entdeckungen in der Jüdischen Bibliothek Mainz, Maʽayanot 1, Berlin 2018.



© Titelfoto: Gershon Ashkenazi, Avodat Gershoni, Frankfurt 1699 (© Universitätsbibliothek Mainz)


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