top of page
GJ_Regalreihen_02.jpg

Tags: 

Blog abonnieren

Vielen Dank
für das A
bbonieren
unseres Blogs

Startmotiv_A_1d_oGebaeude_210225.jpg

Blog

Kerstin A. Paul

Lesen in alle Richtungen: die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich




Was ist eine jüdische Bibliothek? Vielen Menschen kommt als erstes der religiöse Aspekt des Wortes „jüdisch“ in den Sinn. Die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) ist jedoch viel mehr als das. Mit rund 70.000 Büchern deckt sie die gesamte jüdische Kulturgeschichte ab, die integraler Teil der allgemeinen Kulturgeschichte ist: von Belletristik bis zu Kinderbüchern, von religiösen bis zu wissenschaftlichen Büchern; Werke über Musik und Kunst ebenso wie genealogische Bücher. Mit hebräischen, deutschen, jiddischen und englischen Büchern lesen unsere Besucherinnen und Besucher in beide Richtungen und treffen sich in der Mitte. Die Bibliothek wird von Kindergartenkindern ebenso genutzt wie von Studierenden verschiedener Fachrichtungen, von Rabbiner*innen ebenso wie von Leseratten jeden Alters.



Im Dezember 1939 eingeweiht, wurde die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde zu einem Symbol für das Bewahren des europäischen Judentums inmitten von Vertreibung und Zerstörung. Zur selben Zeit wurde in Deutschland die jüdische Kultur zerstört – nicht zuletzt indem jüdische Bibliotheken geplündert wurden. Die ICZ-Bibliothek ist die einzige deutschsprachige jüdische Bibliothek, die zwischen 1939 und 1945 geöffnet blieb. Sie verfügt heute über seltene und zum Teil einmalige Bücher aus dieser Zeit.



 

Abbildungen von links nach rechts: Else Croner, Die moderne Jüdin, Berlin, 1913; E. Flanter, Im Strahlenkranze der Menorah. Ein neues Chanukka-Buch, Berlin 1920; Megillath Esther – die Purimgeschichte für Kinder, erzählt von Eddy Goldschmidt, Hamburg 1931




Aus dem Grundstock von rund 2.000 Bänden ist mittlerweile ein Bestand von 70.000 Titeln geworden. Bücher, Zeitschriften, CDs und DVDs decken ein breites Spektrum jüdischer Themen ab. Der Schwerpunkt liegt auf dem Schweizer Judentum. Neben zahlreichen Fachzeitschriften archivieren wir daher die jüdischen Zeitschriften der Schweiz seit der ersten Nummer.


Die ICZ-Bibliothek – sowohl Gemeinde- als auch wissenschaftliche Leihbibliothek – ist öffentlich. Sie bietet neben Überblicks- und Einstiegswerken in Religion, Geschichte und Literatur zahlreiche Bibelausgaben, Rabbinica und Kommentare. Judaistische Forschungsliteratur wird genauso berücksichtigt wie die Geschichte einzelner Gemeinden oder Themen wie Nahostkonflikt und interreligiöser Dialog. Deutsch-jüdische Kinderbücher erwerben wir möglichst lückenlos. Unsere israelische Klientel erfreut sich am laufend aktualisierten Bestand hebräischer Romane.


Seit 2016 ist der Bestand Teil eines gemeinsamen elektronischen Katalogs der Schweizerischen wissenschaftlichen Bibliotheken (neu unter dem Namen swisscovery). Dieser erhöht die Sichtbarkeit der Spezialbibliothek. Immer wieder finden Benutzende wegen eines Mediums hierher, über das schweizweit nur die ICZ-Bibliothek verfügt.


Aufgrund ihrer besonderen historischen Bestände wird die ICZ-Bibliothek seit 2009 vom Eidgenössischen Department des Innern (EDI) als Kulturgut von nationaler Bedeutung geführt.



Sonderbestände und Sammlungen


Die Breslauer Sammlung

Der bedeutendste und grösste Sonderbestand der ICZ-Bibliothek besteht aus rund 6.000 Bänden des ehemaligen Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau. Das 1854 gegründete Rabbinerseminar förderte die Werte der Aufklärungsbewegung einer ‘Wissenschaft des Judentums’. Diese Ausrichtung spiegelt sich in der Sammlung wider. 1937 umfasste diese rund 40.000 Bände und beinhaltete sowohl Tora- und Talmud-Literatur wie Werke der klassischen Literatur, Philosophie, Philologie, Astronomie, Mathematik und der christlichen Theologie.


Die Nationalsozialisten plünderten das Rabbinerseminar 1938 und schlossen es anschließend. Ein Teil der übrig gebliebenen Bestände vermittelte die Organisation Jewish Cultural Reconstruction in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die Schweiz. Die Organisation kümmerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in der amerikanisch besetzten Zone in Deutschland um die Sammlung und Verteilung jüdischer Kulturgüter ohne Erben. Die rund 6.000 Bücher verteilte der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) auf die Bibliotheken der jüdischen Gemeinden in Basel, Genf und Zürich. Seit Herbst 2017 ist der gesamte Schweizer Bestand (als Eigentum des SIG) in der ICZ-Bibliothek untergebracht. Sie beherbergt somit die grösste geschlossen aufgestellte Sammlung von Büchern des ehemaligen Rabbinerseminars.



 

Aus der Breslauer Sammlung: Eliʻezer Belin Ashkenazi, Sefer Evronot – Das Buch der Zeitrechnung, Offenbach 1722.

Die Illustration der unteren Abbildung erläutert, wie man die jüdischen Monate mit Fingern und Handfläche berechnet.




Der Bestand der Breslauer Sammlung stammt aus der Zeit vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Die zahlreichen handschriftlichen Notizen, Widmungen und Namenseintragungen in den Büchern früherer Besitzer machen die Sammlung einzigartig.


Die Breslauer Sammlung ist vor allem als Einheit besonders wertvoll. Sie enthält zwar auch rare Einzelstücke von unschätzbarem Wert, als Ganzes steht sie jedoch für die versuchte Zerstörung des europäischen Judentums wie auch für den erfolgreichen Wiederaufbau jüdischer Kultur in Europa.


Die Katalogisierung der Breslauer Sammlung begleitet ein monatlich aktualisierter Blog. Er stellt einzigartige Werke dieser Sammlung vor – wie etwa die erste hebräische Übersetzung von Shakespeare.



Nachlass Max Ettinger

Der jüdische Komponist Max Ettinger aus Lemberg (1874-1951) floh 1933 vor den Nazis in die Schweiz, lebte einige Jahre in Ascona und danach in Zürich. Seinen gesamten musikalischen und persönlichen Nachlass vermachte er der ICZ. Seine Notenhandschriften unter anderem zahlreicher Opern, Kammerkonzerte und Lieder sind erfasst und im Katalog recherchierbar. Im Jahr 2010 erschien ein kommentiertes Werkverzeichnis, das die Musikwissenschaftlerin Prof. Dr. Ivana Rentsch erstellt hat.



Nachlass Walter Mehring

Seit 2010 befindet sich ein kleiner Teilnachlass des deutschen Schriftstellers Walter Mehring (1896 - 1981) im Magazin der Bibliothek, neben wenigen Dokumenten und Originalen vor allem aus späten Buchausgaben bestehend. Der überwiegende Teil des physischen Nachlasses befindet sich in der Berliner Akademie der Künste.



«Graue Literatur»

Die Sammlung von etwa 8.000 Broschüren, Fotokopien und Sonderdrucken besteht aus seltenen und einzigartigen Artikeln, Protokollen und Prospekten auf Deutsch, Hebräisch und Jiddisch. Durch sie erhält man einen einmaligen Einblick unter anderem in das jüdische Gemeindeleben der Schweiz und anderer Länder, über den frühen Zionismus oder den Kampf gegen Antisemitismus.



 

Broschüre der Agudas Israel Frauengruppe aus dem Jahr 1941 mit einem Spendenaufruf für „unsere notleidenden Brüdern und Schwestern“, dem Kerzensegen und einer speziellen Tasche, die den Liedtext des Chanukka-Lieds „Maos Zur“ enthält.




Jiddisch-Sammlung

Eine weitere beeindruckende Sammlung sind die über 3.000 jiddischen Bücher, die Marc Richter der Bibliothek im Jahr 1996 als Schenkung übergeben hat. Die Sammlung besteht hauptsächlich aus Belletristik bekannter jiddischer Autoren, enthält aber auch jiddische Übersetzungen russischer Literatur und Sachbücher.

Bisher noch auf Karten erfasst, harrt diese Sammlung der Übertragung in den elektronischen Katalog.



Bibliothek der Schweizerischen Vereinigung für Jüdische Genealogie SVJG

Die 1986 gegründete Schweizerische Vereinigung für Jüdische Genealogie hat eine heute etwa 420 Bände umfassende Spezialbibliothek aufgebaut, die seit 2013 als Leihgabe in der ICZ-Bibliothek öffentlich zugänglich ist. Diese auf den europäischen Raum fokussierte Spezialbibliothek besteht vorwiegend aus deutschsprachigen Nachschlagewerken, Familienchroniken, Biografien, Friedhofsbüchern sowie allgemeinen Werken zur jüdisch-genealogischen Forschung.



Antisemitica

Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von einigen 100 antisemitischen Büchern, die zu Forschungszwecken in der Bibliothek einsehbar sind.



Kerstin A. Paul ist Bibliothekarin und leitet gemeinsam mit Oded Fluss die Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.




Das Buch zur Bibliothek

Quelle lebender Bücher. 75 Jahre Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich. Hrsg. von Yvonne Domhardt und Kerstin A. Paul. Biel: Edition clandestin, 2014.



Alle Abbildungen © ICZ


Comments


Commenting has been turned off.
bottom of page