Posts from the Past & Shared History: Die Aktivitäten und Sammlungen des Leo Baeck Institutes
New York | Berlin
Moses Mendelssohns Brille, Leo Baeck Institute NY | Berlin, Art and Object Collection, 95.20, © Leo Baeck Institute New York | Berlin, https://www.lbi.org/artcatalog/record/250864,
Das Leo Baeck Institut (LBI) ist eine Spezialsammlung, die sich seit nunmehr 66 Jahren der Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Juden widmet. Aus der bitteren Erfahrung der Schoa heraus gründeten 1955 deutsch-jüdische Akademiker und Intellektuelle die Sammlung. Unter ihnen befanden sich Martin Buber, Max Gruenewald, Hannah Arendt und Robert Weltsch. Sie alle waren entschlossen, das kulturelle Vermächtnis des durch den Holocaust nahezu ausgelöschten deutsch-sprachigen Judentums zu bewahren. Die Gründer benannten das Institut nach dem Rabbiner Leo Baeck, dem letzten führenden Repräsentanten der jüdischen Gemeinden im nationalsozialistischen Deutschland.
Neben dem Institut in New York wurden Schwesterinstitute in London und Jerusalem eingerichtet. In diesen Städten lebten nach dem Zweiten Weltkrieg die größten deutsch-jüdischen Emigrantengruppen. 2001 gründete das New Yorker LBI eine Zweigstelle des Archivs in Berlin, angesiedelt am dortigen Jüdischen Museum, und nennt sich seitdem Leo Baeck Institute New York | Berlin. Seine Sammlungen sollten als Quellenmaterial primär Historikern und anderen Wissenschaftlern zur Verfügung stehen – zur wissenschaftlichen Bearbeitung dessen, „what was once German Jewry.“ [1]
Das Leo Baeck Institute New York | Berlin ist einer von fünf Gründungspartnern des Center for Jewish History in New York. Das zentral gelegene Gebäude in Manhattan bietet seit 2000 in einem gemeinsamen Lesesaal Zugang zu noch nicht digitalisierten Sammlungen und steht im Mittelpunkt kultureller Veranstaltungen und Ausstellungen. © Leo Baeck Institute New York | Berlin
Eine große Besonderheit des LBI ist seine Sammlungsgeschichte und die daraus resultierenden Bestände. Den Großteil der Objekte übergaben jüdische Flüchtlinge oder ihre Nachkommen in die Obhut des Instituts. Die derart bewahrten deutschsprachigen Dokumente, Bücher, Aufzeichnungen und Erinnerungsstücke haben ihre früheren Besitzer mitunter durch mehrfaches Exil begleitet und verdeutlichen, wie stark die emotionale und psychische Verbundenheit zur verlorenen Heimat war – trotz Brüchen, Entwurzelung und Trauma.
Das Leo Baeck Institute hat sich der Bewahrung und Erschließung dieses außergewöhnlichen Erbes verschrieben. Mit einer mehr als 80.000 Bände umfassenden Bibliothek, einem Archiv von mehr als 12.000 Familiensammlungen, Memoiren und Fotos sowie einer stetig wachsenden Kunst- und Objektesammlung beherbergt das LBI NY | Berlin eine der bedeutendsten Sammlungen von Primär- und Sekundärquellen deutschsprachiger jüdischer Familien und Einzelpersonen. Originaldokumente reichen bis ins in das siebzehnte Jahrhundert zurück, einschlägige Literatur bis in das fünfzehnte Jahrhundert. Der Schwerpunkt liegt auf der Alltagsgeschichte.
Das Schwinden der Gründergeneration und der Zeitzeugen, die die Zerstörung des deutsch-jüdischen Lebens und der deutsch-jüdischen Kultur im Nationalsozialismus erlebt haben, stellt das LBI vor die Herausforderung, Verbindungen zu neuen Benutzergruppen zu knüpfen und die Materialien im Kontext zu präsentieren. Nach Jahrzehnten vollzieht sich nun der Übergang vom ‚kommunikativen‘ zum ‚kulturellen Gedächtnis,’ wie der Historiker Jan Assmann beobachtet. [2] Eine Sammlung wird nicht mehr nur als (weiterhin wichtige) passive Informationsquelle gesehen, sondern kann und muss sich aktiv in den aktuellen Diskurs einbringen, z.B. durch Projekte, Veranstaltungen und den Einsatz von Social Media.
Seit 2012 liegen fast alle Archivbestände des LBI sowie ein großer Teil der Zeitschriften, der Kunst- und der Objektesammlung in digitaler Form vor. Wie kann die Öffentlichkeit nun mit Quellenmaterial arbeiten, das ursprünglich hautsächlich Wissenschaftler bearbeitet und interpretiert haben?
Das Leo Baeck Institute versucht diesen Herausforderungen mit zwei Strategien gerecht zu werden: zum einen ist es bestrebt, Geschichte sowohl einem breiten Publikum als auch ausgewählten Benutzergruppen im Kontext zu vermitteln, zum anderen, das “Vergangene gegenwärtig“ zu machen, indem es die Bedeutung von Geschichte für Probleme der Gegenwart aufzeigt.
Die erste Strategie hat das LBI im größeren Stil im 1938 Projekt: Posts from the Past angewandt, einem kuratierten Kalenderprojekt, sowie im neuesten Projekt 2021: Shared History: 1700 Years of Jewish Life in German-speaking Lands.
1938Projekt: Posts from the Past: Flucht von Köln nach Kenia: Kalendereintrag für den 26. Februar 1938: Trotz der restriktiven Einwanderungspolitik der britischen Kolonialmacht gelingt dem zwanzigjährigen Autoschlosser Paul Egon Cahn aus Köln mit diesem Pass die Flucht nach Kenia. Pauls Schwestern Erika und Inge schaffen es, sich in England beziehungsweise Australien in Sicherheit zu bringen. Die Eltern der Geschwister, Siegfried und Renate Cahn, bleiben in Deutschland zurück. Paul Egon Cahn Collection, Leo Baeck Institute, AR 25431. © Leo Baeck Institute New York | Berlin
LBI’s Shared History Project: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, erzählt die Geschichte der Juden in Mitteleuropa anhand von 58 Objekten. Am 9. Mai 2021 werden so z.B. der Eintrag und die Essays zur Brille des Philosphen Moses Mendelssohn veröffentlicht, einem wichtigen Objekt aus den Sammlungen des LBI, das seit 2001 als Dauerleihgabe im Jüdischen Museum in Berlin ausgestellt ist. © Leo Baeck Institute New York | Berlin,
Die zweite Strategie des Leo Baeck Institutes zielt darauf ab, die Sichtbarkeit der Bestände zu erhöhen, indem Sammlungen thematisch in den aktuellen politischen Diskurs eingebracht werden. Dies hat das LBI in bisher zwei erfolgreichen Veranstaltungsreihen realisiert.
Erschließungs- und Kontextualisierungsprojekte sowie Veranstaltungen, die relevante Parallelen zu aktuelle Diskursen ziehen, sind sehr aufwendig, besonders für ein kleines Institut, und hängen von Drittmittelfinanzierung ab. Es müssen Partner, Mittel und Projektmitarbeiter gefunden werden. Aber sie sind eine Chance, die bestehende Sammlung für ein breites Publikum zugänglicher zu machen, neue Zielgruppen zu definieren und diese enger an das Institut zu binden. Spezialsammlungen ermöglichen es, die Vergangenheit immer wieder neu zu befragen und dies für die Gestaltung der Gegenwart zu nutzen. Der Wert einer Sammlung sollte sich zwar daran messen, wie gut und dauerhaft sie Dokumente sichert und erschließt. [3] Aber gleichzeitig darf nicht unterschätzt werden, wie wichtig es ist, die Sammlung in den jeweiligen öffentlichen politischen, sozialen und kulturellen Diskurs aktiv einzubringen und die Zugänglichkeit zu erhöhen.
Renate Evers ist Sammlungsleiterin am Leo Baeck Institute New York | Berlin.
[1] Siegfried Moses, Leo Baeck Institute of Jews from Germany, in: The Leo Baeck Institute Year Book 1, no. 1 (1956): XI–XVIII, hier: S. XIV.
[2] Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19, hier S. 11
[3] Olaf Zimmermann, Aus dem Schatten treten: Archive sind zentrale Kulturorte, in: Politik & Kultur 2020, no. 3 (März 2020): S. 15.
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