Vom Dachboden ins Museum: Der Bottroper Bücherkorb
Bottrop, Kirchhellener Straße 46, im Januar 1989: Ein Haus wird verkauft, die Besitzerin wechselt aus Altersgründen in ein Seniorenheim. In dem großen, viele Jahrzehnte alten Haus hat sich allerlei an Möbeln und Hausrat angesammelt. All dies soll im Rahmen einer Auktion versteigert werden. Zwei Auktionatoren sichten und sortieren alles. Erst ganz zum Schluss nehmen sie sich den Dachboden vor. Dort stoßen sie auf einen Weidenkorb. Er lässt sich nicht anheben, so schwer ist er, der Boden bricht aus, ist morsch. Beim Öffnen stoßen die beiden Männer auf rund 150 Bücher und Zeitschriften, alle sorgfältig in Papier verpackt. Sie finden zionistische Literatur, Belletristik, Bücher zur jüdischen Geschichte, Sprachbücher für Spanisch und Hebräisch und religiöse Literatur.
Aus Namenseintragungen und Zufallsfunden wie etwa Rechnungen in den Büchern ließ sich die Geschichte des Korbes und damit des Hauses und seiner Bewohner rekonstruieren. Eigentümer des Hauses war die jüdische Familie Dortort, die ein Möbelhaus betrieb. Weitere jüdische Familien wurden ab 1940 dort zwangsweise einquartiert, das Haus von den Nationalsozialisten zum sogenannten „Judenhaus“ gemacht. Vor ihrer Deportation am 24. Januar 1942 versteckten die Bewohner einiges auf dem Dachboden, darunter auch diesen Weidenkorb. Von den damaligen Bewohner*innen überlebte niemand die Deportation. Der Korb blieb bis Januar 1989 unentdeckt und unberührt.
Auf dem Dachboden: Auffindsituation des Bücherkorbs 1989 © WAZ Bottrop
Hinweise in zwei Büchern führten zur Synagogengemeinde Essen und zur dortigen Israelitischen Gemeindeschule. Deshalb kontaktierten die Auktionatoren zunächst die Alte Synagoge in Essen. Bei der Auktion gab es dann allerdings drei Interessenten: Neben der Alten Synagoge das Stadtarchiv Bottrop und das Dokumentationszentrum für jüdische Geschichte und Religion in Dorsten, das damals schon ein Museum plante, das heutige Jüdische Museum Westfalen. Alle drei hatten gute Argumente für den Ankauf. Schließlich einigte man sich fast salomonisch. Die Alte Synagoge ersteigerte den Bücherkorb. Sie erforschte den Bestand und konzipierte zusammen mit dem Stadtarchiv Bottrop eine Ausstellung. Das Stadtarchiv erhielt einige Bücher nach eigener Wahl. Später kaufte die Dorstener Gruppe den Bücherkorb und integrierte ihn in die Ausstellung des in Planung befindlichen Museums. So kam der Korb mit seinem Buchbestand schließlich in das Jüdische Museum Westfalen.
Wem gehörten die Bücher?
Waren diese Bücher alle in Privatbesitz oder gehörten sie überwiegend der kleinen jüdischen Gemeinde in Bottrop? Leider fehlen in den meisten Büchern entsprechende Besitzerstempel oder Eintragungen. Bemerkenswerte Ausgaben aus berühmten Druckereien oder von bekannten Herausgebern finden sich nicht. Die rund 150 Bücher im Korb lassen sich mehreren Themenbereichen zuordnen. Auffällig ist ein größerer Bestand an religiöser Literatur: Gebetbücher für Feiertage, für alle Wochentage, Einzelgebetbücher, mehrere Pessacherzählungen, Bibelausgaben sowie religiöse Auslegungsliteratur.
Von den Pessacherzählungen, hebräisch Haggadot, gibt es acht unterschiedliche Ausgaben, davon sieben in deutsch und hebräisch. Die einsprachig hebräische Haggada wurde 1922 in Wien gedruckt. Bei den zweisprachigen Ausgaben stammt eine aus Wien (1936), übersetzt von Dr. Philipp Schlesinger, eine weitere aus Frankfurt von 1921, in neuer Übersetzung von Dr. Selig Bamberger. Auffällig ist eine Haggada für den Schulgebrauch (Wien 1908) mit Jugendstil-Verzierungen auf dem Einband. Zwei Haggadot hat der preußische Landesverband der jüdischen Gemeinden herausgegeben, jeweils mit einem Ex Libris von 1938.
Ebenfalls finden sich drei Pentateuche, die fünf Bücher Moses, also die Tora. Eine Ausgabe enthält zudem fünf weitere Bücher, die sogenannten fünf „Megillot“ (Rollen): das Hohelied, Ruth, die Klagelieder, Esther und den Prediger. Es handelt sich hier um eine von L.H. Loewenstein übersetzte Ausgabe von 1904 aus Rödelheim. Ein weiterer Pentateuch (Wien 1904) wurde von Rudolf Fuchs für den Schulgebrauch bearbeitet.
Zum Fund gehören auch vier unterschiedliche Ausgaben des „Schulchan aruch“. Dabei handelt es sich um ein vierbändiges Sammelwerk, in dem unterschiedliche Bräuche und Gebote für den Einzelnen wie für die Gemeinde enthalten sind. Die vier vorgefundenen Bücher ergeben allerdings kein Ganzes, sie stammen aus Berlin 1872, Wilna 1895 und Wilna 1896. Auch die von Rabbiner S. Ganzfried im 19. Jahrhundert erstellte Kurzfassung, der Kizzur Schulchan aruch, findet sich in einer Ausgabe von 1923 (Wien) im Bücherkorb.
Auffällig bei der religiösen Literatur ist zudem das von Rabbiner Dr. S. Funk 1921 herausgegebene Bändchen „Talmudproben“ aus der Sammlung Göschen.
Ein weiteres interessantes Thema, mit dem sich einige Bücher aus dem Bücherkorb beschäftigen, ist der Zionismus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts konkurrierten drei wichtige Strömungen miteinander, zu denen sich auch im Bücherkorb Exemplare finden lassen. Es gab den politischen Zionismus, der sich als Befreiungsbewegung verstand, einen praktischen Zionismus, der Antworten auf den Antisemitismus suchte, und einen geistig-kulturellen Zionismus, der eine Erneuerung der jüdischen Identität anstrebte.
Das sicherlich interessanteste Buch unter den zionistischen Schriften ist der Sammelband „Die zionistische Idee“. Er enthält Beiträge von den wichtigsten Vertretern der Zeit: Moses Hess, Leon Pinsker, Max Nordau und Martin Buber. Auch von Chaim Arlosoroff, dem Gründer der jüdischen Arbeiterpartei von 1930, findet sich ein Werk: „Leben und Werk. Ausgewählte Schriften, Reden, Tagebücher und Briefe“, Berlin 1936. Einer der führenden zionistischen Soziologen und Ökonomen, Dr. Arthur Ruppin, ist ebenfalls mit einem Buch vertreten: „Die Juden in der Gegenwart. Eine sozial-wissenschaftliche Studie“ (Jüdischer Verlag, Berlin 1920).
Hinzu kommen Sprachbücher für Hebräisch und Spanisch, wohl zur Vorbereitung auf eine Auswanderung, ein Lehrbuch für kaufmännischen Briefwechsel und ein Heft der Kultur-Zeitschrift Menorah (6. Jg., Nr. 9, Sept. 1928).
Etliche Bücher enthalten Besitzereintragungen, die unter anderem auf die Familien Dortort und Krauthammer hinweisen. In einem Buch findet sich ein Vermerk „Als Geschenk zu meiner Bar Mitzwah von meinem Lehrer Bär“. Wem das Buch gehörte, wissen wir leider nicht.
Bücher als Spiegel jüdischen Lebens in Bottrop
Bei den im Korb vorgefundenen Büchern handelt es sich nicht um eine bestimmte Sammlung, sondern um einen mehr zufälligen Bestand, zusammengestellt vor dem Hintergrund einer drohenden Deportation. Dennoch geben sie einen bescheidenen kulturellen Einblick in die kleine ostjüdisch und orthodox geprägte Gemeinschaft in Bottrop. Angezogen von den wirtschaftlichen Möglichkeiten des aufstrebenden Bergbauortes hatten sich dort ab den 1890er Jahren kontinuierlich jüdische Familien angesiedelt. Außerdem kamen zahlreiche „Ostjuden“ aus Polen und Galizien in das Ruhrgebiet und auch nach Bottrop. Sie hatten in ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld nur wenige Beziehungen zu den alteingesessenen jüdischen Familien. Ansonsten bestimmten die jüdischen Einwohner Bottrops mit dem Textil- und Möbelhandel das Bild der lokalen Geschäftswelt. Von 1890 bis 1932 war die jüdische Gemeinschaft von 9 auf 225 Personen angewachsen.
Von der Familie Dortort überlebte nur Josef, das jüngste von drei Kindern. Er war Anfang 1939 mit seinem Bruder Emil über Belgien nach Frankreich geflohen. Im Mai 2004 kam er erstmals in seine ehemalige Heimatstadt zurück. Bei dieser Gelegenheit besuchte er auch unser Museum. Beim Blick auf den Korb bestätigte er, dass in ihrem Möbelhaus auch derartige Körbe verkauft wurden. Wir zeigten ihm zu seiner Überraschung und Freude auch einige Objekte, die von ihm stammten, so eine kleine Zeichnung und eine Broschüre, in die er seinen Namen gestempelt hatte.
Thomas Ridder M.A. ist Kurator am Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten.
Titelbild: © Jüdisches Museum Westfalen
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