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  • Brigitte Jünger

Widerstand mit dem Buch unterm Hemd – die Papier-Brigade des Wilnaer Ghettos


Wie einen zarten Säugling

beschütz ich das jiddische Wort,

schnuppre in jeden Berg Papier,

rette den Geist vor Mord.

Grab ich und pflanz Manuskripte.

 

Abraham Sutzkever, März 1943



Abraham Sutzkever beschreibt in seinem Gedicht kerndlech wajts - Weizenkörner lyrisch verwandelt, aber dennoch ziemlich genau, das, was er als Teil der Papierbrigade im Ghetto Wilna tat: Bücher und Manuskripte suchen – mitnehmen – verstecken. Das widersprach dem Auftrag der deutschen Besatzer diametral. Der lautete: Bücher und Manuskripte aussortieren – abliefern – der Vernichtung anheimgeben. Das abkommandierte Arbeitskommando, das von den Ghettobewohnern Papierbrigade genannt wurde, nutzte die Order der Nazis zur Sabotage. Bei Entdeckung hätte das unweigerlich zum Tode geführt.

 





Am 22. Juni 1941 startet die Deutsche Wehrmacht das „Unternehmen Barbarossa“ und greift, unter Missachtung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes, die Sowjetunion an. Unmittelbar betroffen ist auch Litauen, das im Jahr zuvor von der Sowjetunion überfallen und zur Sozialistischen Sowjetrepublik erklärt worden war. Schon wenige Tage später beginnen deutsche Soldaten und ihre litauischen Handlanger in der Hauptstadt Wilna, heute Vilnius, mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Sie treffen auf eine Stadt, in der etwa 55.000 – ein Drittel der Einwohner – Juden waren.



Kultursprache Jiddisch


Wilna, das auch als Jerusholajim d’Lite – das Jerusalem Litauens bezeichnet wurde, war ein uraltes kulturelles Zentrum des osteuropäischen Judentums. Seit dem 14. Jahrhundert waren Juden dort ansässig. Bedeutende Rabbiner und Gelehrte, wie im 18. Jahrhundert Elijah Ben Salomon Salman, genannt der Gaon von Wilna, haben dort gewirkt. Nachdem im 19. Jahrhundert ein Bewusstsein dafür entstanden war, dass das Judentum nicht nur eine Religion, sondern eine eigene, auch weltliche Kultur hervorgebracht hatte, stand die jiddische Sprache nicht länger im Schatten des Hebräischen. Sie war anerkannt und überall präsent. Es gab ein jiddischsprachiges Gymnasium und eine Technische Hochschule, fünf jiddische Zeitungen, jiddische Theatervorstellungen, Jugendclubs und Bibliotheken.


Die bedeutendste unter ihnen war die Anfang des 20. Jahrhunderts von Mattityahu Strashun (1817 – 1885) aufgebaute Strashun-Bibliothek – die erste öffentliche jüdische Bibliothek weltweit. Bis 1940 waren dort etwa 50.000 Bücher, außerdem seltene Drucke und wertvolle Manuskripte aus der Frühzeit der Buchproduktion in hebräischer und jiddischer Sprache zu finden.


Eine ebenfalls umfangreiche Bibliothek mit bis zu 85.000 Büchern befand sich im YIVO, kurz für Yidisher visnshaftlekher institut. Das 1925 in Berlin gegründete Institut, das sich bis heute der Erforschung des osteuropäischen Judentums und seiner Kulturgeschichte widmet, verfügte darüber hinaus über ein großes Archiv historischer Zeugnisse jüdischen Lebens. Im multiethnischen Osteuropa verstand sich das YIVO als jiddischsprachiges Zentrum, in dem Geschichte und Gegenwart des Judentums zusammenfanden. Daneben übernahm das Institut die Aufgabe, die jüdische Gemeinschaft angesichts des seit Mitte der 1930er Jahre zunehmenden Antisemitismus zu stärken und intellektuell zu unterstützen.


Auf diese kulturelle Situation treffen die Nazis, als sie 1941 in Wilna einfallen und mit der Vernichtung jüdischen Lebens beginnen. Im Wald von Ponar, einem Ausflugsort nahe der Stadt, werden tausende Menschen erschossen und verscharrt. Ende August beginnt die Errichtung des Ghettos von Wilna, das aus einem „Kleinen Ghetto“ für Alte und Arbeitsunfähige und einem „Großen Ghetto“ für alle anderen Juden besteht. Dafür müssen die bisherigen Bewohner der Altstadt den Bezirk räumen, der nun umzäunt und bewacht wird. Etwa 40.000 Menschen sind dort zusammengepfercht und müssen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Immer wieder werden sogenannte „Aktionen“, Durchsuchungen und Selektionen durchgeführt, denen Tausende zum Opfer fallen. Schon im Oktober 1941 leben nur noch 18.000 Menschen im Ghetto.



Vernichtung von Menschen – Zerstörung von Büchern


Es reicht den deutschen Besatzern jedoch nicht, Menschen zu vernichten. Sie haben das erklärte und schon etablierte Ziel, auch ihre kulturellen Hervorbringungen zu plündern und zu zerstören. Hauptverantwortlicher ist der 1934 zum Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP ernannte Alfred Rosenberg.


Der glühende Antisemit und Parteiideologe gründet den „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“, eine Organisation, die nach Kriegsbeginn den Raub von Kulturgütern in den besetzten Gebieten betreibt. Tausende Kunstwerke aus jüdischem Besitz gelangen so in NS-Besitz. Daneben steht die Plünderung jüdischer Bibliotheken an oberster Stelle. Das vorgebliche Ziel ist „Gegnerforschung“, die keinen anderen Zweck hat, als die Rassenideologe des Nationalsozialismus zu untermauern. Zu den erklärten Gegnern zählen auch Kommunisten, Freimauer, Homosexuelle und andere. Erbeutete Kunstwerke, Bücher, Manuskripte und Handschriften werden dem „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ zugeführt, einer parteipolitischen Einrichtung, die als Archiv und Bibliothek der zu gründenden Eliteuniversität „Hohe Schule“ angegliedert sein soll.


Als Rosenberg 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete wird, setzt er seine Raubzüge auch in Wilna fort. Schon kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht erscheint Herbert Gotthard als Vertreter des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg in der Stadt, um die Kulturgüter zu sichten und ihren Abtransport zu organisieren. Er lässt Noah Pryłucki, den Leiter des YIVO, Abraham Goldschmidt, den Leiter des Ethnografischen Museums, und Khaykl Lunski, den Leiter der Strashun-Bibliothek, verhaften und zwingt sie, Listen der wertvollsten Bücher, Handschriften und Inkunabeln zu erstellen.


Alle drei gehören zu den angesehensten Wissenschaftlern Osteuropas. Der Rechtsanwalt Pryłucki hat als Philologe zur jiddischen Sprache und ihren Dialekten geforscht und ist einer der Gründer und Herausgeber der Sprachenzeitschrift Yidishe filologye. Lunski hat 1895 schon für die Strashun-Bibliothek Bücher gesammelt und war an Gründung und Aufbau der Jüdischen Historisch-Ethnographischen Gesellschaft beteiligt. Alle drei werden nach getaner Listenerstellung von den Nazis ermordet.  



Papierbrigade: Arbeitskommando zur Durchsuchung der Bibliotheksbestände


Anfang 1942 erscheint ein weiterer Mitarbeiter des Instituts zur Erforschung der Judenfrage in Wilna: Johannes Pohl, auch er ein fanatischer Antisemit. Er sorgt dafür, dass der Judenrat ihm für die Durchsuchung der Bibliotheksbestände ein Arbeitskommando zusammenstellt – die Papierbrigade.


Der Judenrat wählt 40 Intellektuelle aus, die auf besondere Weise mit Büchern zu tun haben. Leiter der Papierbrigade wird der jüdische Philologe und Übersetzer Zelig Kalmanovitch, ihm zur Seite steht der Journalist und Bibliothekar Herman Kruk. Er hat bis 1939 in Warschau eine Bibliothek geleitet und darüber hinaus ein ganzes Netz von 30 weiteren Bibliotheken in Polen etabliert. Nach der Eroberung Polens ist er nach Wilna geflohen. Im Wilnaer Ghetto errichtet er sofort eine weitere Bibliothek, die den kargen Alltag der Ghettobewohner bereichert und eifrig genutzt wird. Am 13. Dezember 1942 wird die Ausleihe des hunderttausendsten Buches festlich begangen.


Wie auch Kalmanovitch führt Kruk Tagebuch und beginnt damit, eine Chronik des Ghettos zu verfassen – sicherheitshalber in dreifacher Ausfertigung. Ein Exemplar hat Abraham Sutzkever nach dem Krieg gefunden und in Sicherheit gebracht. Ediert sind Kruks Tagebücher und die Chronik bis heute vollständig nur auf Englisch.



 

Abraham Sutzkever und Shmerke Kaczerginski, 1930er Jahre (© gemeinfrei)




Insgesamt werden rund 40 Männer und Frauen zur Arbeit in der Papierbrigade gezwungen, darunter auch die beiden jungen Dichter Abraham Sutzkever und Shmerke Kaczerginski. Beide haben sich seit Mitte der 1930er Jahre mit ihren Werken einen Namen gemacht. Zur Brigade gehört außerdem Rozka Korczak, die ebenso wie der Schriftsteller Abba Kovner der zionistischen Jugendbewegung Haschomer Hatzair angehört. Beide sind außerdem in der Partisanengruppe Fareynikte Partizaner Organizatsye aktiv. Ihre Aufgabe in der Papierbrigade ist es, alle jüdischen und nichtjüdischen Sammlungen in Wilna systematisch zu durchsuchen und zu ordnen. Nach den Vorstellungen des Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg sollten 70 Prozent der vorhandenen Bücher vernichtet und der Rest ins Deutsche Reich überführt werden. Am 26. August 1943 schreibt Zelig Kalmanovitch in sein Tagebuch:


»Ich habe die ganze Woche Buchbestände durchgesehen und dabei einige Tausend Bücher, die durch meine Hände gingen, weggeworfen. Bücher stapeln sich auf dem Boden des YIVO-Lesesaales. Ein Leichenhaus der Bücher. Ein Massengrab. […] Die wenigen, die ich aussortiert habe, werden wir vielleicht retten können. Und wenn die Erlösung bald kommt, gelingt es vielleicht auch, vom Haufen einen Überrest zu retten. Mögen wir das erleben!«



Im YIVO-Institut befindet sich die Zentrale der Papierbrigade, dorthin werden alle Bücher und Schriften aus der Bibliothek der Universität Wilna, der Strashun-Bibliothek, der Bibliothek des Ethnografischen Museums, aus den Bibliotheken der etwa 350 Synagogen der gesamten Region und der übrigen Sammlungen gebracht. Ein Großteil der Bücher wird, schon aus Platzgründen, eingestampft. Eine Papierfabrik in Vilejka bei Wilna kauft einen Teil des Papiers zum Preis von 19 Reichsmark pro Tonne Papier. Vieles andere wird als Brennmaterial für Heizungen verwendet.



Briefe unter der Mütze


Angesichts dieser Vernichtung ihres kulturellen Erbes beginnen die Mitglieder der Papierbrigade mit der Rettungsarbeit. Wertvolle Briefe und Handschriften oder Zeichnungen schmuggeln sie unter ihrer Kleidung oder versteckt in Schuhen und Mützen ins Ghetto. Wer mit Papier erwischt wird, behauptet, es zum Heizen verwenden zu wollen. Nicht alle Ghettobewohner haben dafür Verständnis. Der Schriftsteller Shmerke Kaczerginski notiert:


»Wir haben nicht einmal bemerkt, in welcher Lebensgefahr wir uns befinden, und begannen alles von den Deutschen zu stehlen, was wir verstecken konnten. Die Juden hielten uns für verrückt. Juden hatten unter ihrer Kleidung, in den Stiefeln Lebensmittel aus der Stadt hineingeschmuggelt, wir schmuggelten Bücher, Papiere und manchmal auch eine Thorarolle, Mesusot, verschiedene religiöse Gegenstände und so weiter.« 


Versteckt werden die Bücher und Artefakte an verschiedenen Stellen im Ghetto: einem belüfteten Keller, in Metallbehältern, die vergraben werden, und in der Ghetto-Bibliothek. Als Versteck dienen auch die Malinen, unterirdische Tunnel, in denen auch Waffen verborgen werden. Besonders wertvolle Stücke werden vertrauenswürdigen nichtjüdischen Freunden im Untergrund zur Aufbewahrung übergeben. Wenn die Menschen ermordet werden, sollen wenigstens die Hervorbringungen ihres Geistes überleben.


Als das Ghetto im September 1943 liquidiert wird, werden Zelig Kalmanovitch und Herman Kruk nach Estland verschleppt und in den dortigen Arbeitslagern ermordet. Auch die übrigen Ghettobewohner werden in umliegende Arbeitslager gebracht und kommen dort zu Tode. Abraham Sutzkever und einigen der Partisanen gelingt die Flucht in die umliegenden Wälder. Ein halbes Jahr leben er und seine Frau dort im Versteck, bis am 12. März 1944 eine unerwartete Wendung eintritt: Das Jüdische Antifaschistische Komitee, dem in Moskau Ilja Ehrenburg vorsteht, beschließt sie zu retten und schickt mehrere Flugzeuge. So gelangt Sutzkever in die Hauptstadt der Sowjetunion.




 

Abraham Sutzkever, 1962 (© gemeinfrei)




Nach Kriegsende kehren Sutzkever und andere Angehörige der Papierbrigade wie Shmerke Kaczerginski sofort nach Wilna zurück, um die versteckten Bücher zu sichern. Einige Verstecke sind unversehrt, andere beschädigt oder vollständig zerstört wie die Sammelstelle im YIVO-Gebäude. Tausende Bücher befinden sich nach wie vor im Katharinenkloster. Sutzkever und Kaczerginski tragen die Bücher zusammen und errichten in der ehemaligen Ghetto-Bibliothek das Museum der Jüdischen Kunst und Kultur.


Derweil entdecken die Alliierten in den Depots der Stadt Offenbach drei Millionen geraubte Schriften und Ritualgegenstände aus Osteuropa. Nach Vilnius kehrt nichts davon zurück. 420 Kisten voller Bücher aus der Strashun-Bibliothek und den übrigen Sammlungen werden nach New York zur dortigen Dependance des YIVO verschifft. Dort befindet sich heute die größte jiddische Bibliothek der Welt.

 

Wer wird bleiben?

Wer wird bleiben? Was wird bleiben?Bleiben wird ein Wind.

Bleiben wird die Blindheit eines Blinden,

die verrinnt.

Bleiben wird ein Meereszeichen,

nur ein Krönchen Schaum.

Bleiben wird ein kleines Wölkchen,

hoch auf einem Baum.

 

Wer wird bleiben? Was wird bleiben?

Bleiben wird ein Wort,

Schöpfungsgras, hervorzukeimen heut

und immerfort.

 

Abraham Sutzkever

 

 

Brigitte Jünger ist Journalistin und Autorin.




Titelbild: Shmerke Kaczerginski beim Sichten der Bücher (© gemeinfrei)

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